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Die Disruption deines Ichs

27. February 2017

‪‬‪Nie mehr allein, nie mehr ohne Antwort, nie mehr auf Andere angewiesen, alles im Griff – nie mehr unabhängig? Sehnsuchtserfüllung? Autarkie oder Albtraum? 

Ich nütze mein mobiles Telefon als Werkzeug für fast alle meine Tätigkeiten. Beruf, Kontakte, Lesen, News, Bilder bearbeiten, Notizen machen, mich in der Fremde nicht ganz so fremd fühlen und da ankommen, wo ich möchte. Manchmal auch zum telefonieren. Es klappt – so meistens sind wir Freunde. Nur miteinander reden, meine Ängste teilen, meine Euphorie für neue Projekte – selbst das mir selbst auf den Wecker gehen und danach rufen, dass mich mal jemand aufrichten mag – diese Dinge teile ich noch nicht. Es geht eben noch nicht. “Was soll ich heute kochen?”, “Ist dieser Präsident wirklich eine Bedrohung?”, “Welchen Beruf soll ich wählen?”, “Frag mich doch mal die Vokabeln ab”, “Was ist die Antwort auf alles?” – solche Unterhaltungen haben meistens nicht den gewünschten Ausgang.

Mein “digitaler Assistent” ist eine dumme Diktiermaschine und da sie noch nicht einmal zwischen Wörten verschiedener Sprachen unterscheiden kann oder einen Kontext versteht, endet jedes zweite Diktat in viel Korrekturarbeit. Ich bin manchmal froh, dass nicht alles verstanden wird, was ich sage. Mir tun die Mitarbeiter manchmal leid, die die Wortschätze, Frage und Antwort Spiele von Siri, Cortana, Alexa und den anderen Assistenten aufbereiten und verbessern versuchen. Die Wahl von Donald Trump haben diese Leute wahrscheinlich schon im voraus erahnt. Der nächste Scheidungsfall wird aus den Gesprächsverlaufen genauso hervorgehen, wie der Ort, wo jetzt die noch billigeren Tomaten eingekauft werden. Das Urlaubsziel von Millionen ist dank solcher Assistenten bald genauso im voraus bekannt, wie die derzeit am meisten gefragte Waschmittelmarke.

Stell Dir jetzt aber einmal vor, diese SmartDinger würden nicht nur den Text verstehen, sondern den KonText, d.h. alles was vorher oder in der Umgebung passiert. Stellt Dir mal vor, da gibt es etwas, was auf alles eine Antwort haben wird, egal ob Du wissen willst, wie Du Deine Geschäftsidee am Besten umsetzt, oder ob Du heute genug Magnesium zu Dir genommen hast und deswegen auf die Erbsen verzichten kannst. Mal Dir einmal aus, das Du immer einen echt persönlichen, Dich und Dein Leben kennenden Freund bei Dir hast, der nicht nur immer in Deinem Sinne antwortet, Dich auf digitalen Händen trägt, sondern auch auf fast alles die beste Antwort wissen wird.

Der persönliche digitale Assistent wird als eine der größten Veränderungen in der Menschheitsgeschichte eingehen.‬ Ein Begleiter analog Samantha, Jarvis,… wird sich so sehr in unser Beweusstsein, unser Denken, unseren Alltag und unser emotionales Innerstes verweben, wie wir es nur unseren besten Freunden, unserem Partner, unserer Familie erlauben würden.

Ein uns allzeit begleitender Berater, der jede Facette deines Ichs kennt und versteht und dessen Ziel es ist, unser Leben angenehmer, einfacher, positiver, glücklicher zu gestalten, wird auf Folgendes hinauslaufen: der digitale Assistent wird mehr Einfluss auf uns ausüben, als alle anderen Menschen, Institutionen und Erfahrungen zusammen. Der perfekte Ratgeber mit allem Wissen aus dem Netz versorgt und der Fähigkeit, unbegrenzt mehr Informationen für uns zu verstehen und aufzubereiten, wie wir das selbst oder andere Menschen für uns tun könnten.

Keine Entscheidung in unserem Leben wird ohne diese Hilfestellung durchgeführt werden, keinen Moment unseres Lebens werden wir vorenthalten. Unser persönlicher Coach, Mentor, Therapeut, Motivator, Tröster und Sparring Parter. Wir werden nicht mehr ohne ihn (oder sie) leben wollen. Mr/Mrs/Ms SmartAss – das Ass im Ärmel.

Gesellschaftlich und politisch werden die Folgen jedoch alles andere als einseitig sein. Neue Werkzeuge und neue Möglichkeiten schaffen immer auch eine neue Abhängigkeit. Du kannst die Existenz von etwas “Besserem” nicht ignorieren. Fortschritt muss einsetzt werden – alles andere ist Nostalgie. Wird also der Mensch in seinem Alleinsein und seiner Unwissenheit zur Auslaufware? Wer nicht glauben will, dass Silikon schon bald als Berater zur Verfügung stehen kann, sollte sich eingehend mit aktuellen Forschungsprojekte im Bereich KI, deepLearning, Neurologie und Psychologie auseinandersetzten. Es spielt dabei gar keine Rolle, ob diese Entwicklungen Mechanismen hervorbringen, welche genau gleich wie ein Mensch funktionieren – es reicht, wenn Sie im konkreten Anwendungsfall gut genug sind. Bei Sprachverständnis, Lesen, Übersetzen, Spielen, Bildauswertungen, … sind sie das oft schon.

Wie bei vielen Themen der Digitalisierung ist es höchste Eisenbahn, uns schnell die richtigen Fragen stellen, um beim einhergehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel nicht das letzte bisschen Kontrolle zu verlieren. Noch bevor irgendwelche autonome Automaten die Welt bevölkern, werden wir uns selbst digitalisieren, und es stellen sich also auch schon hier Fragen, wie:

  • Wird ein Assitent unparteiisch sein (können/sollen)? Inwieweit das in einer parteiischen Umwelt möglich ist.
  • Ist die Freundschaft kostenlos (sind normale Freundschaften das)? Mit Werbung finanziert? Kann sich vielleicht freikaufen?
  • Kann man sich gegen Fehlentscheidungen versichern? Ist man haftbar für diese? Darf der SmartAssistent Verträge abschliessen, deren Inhalte für mich zu kompliziert zu verstehen sind? Repräsentiert er mich? Gar über einen eventuellen Tod hinaus, da er weiss, was ich wollte?
  • Was zählt noch die Meinung anderer Menschen? Der Arztes?, Des Polikers?
  • Welcher Staat (und welcher Partner, Vorgesetzt, Vater, …) erlaubt solche allwissenden Begleiter? Ist Demokratie, Diktatur, Fake news/Lügen, Werbung, Prüfungen,… dann überhaupt noch nötig/ möglich?

Vor allem aber ist eine Frage wichtig: wird mein digitaler Freund und Assistent überhaupt noch mich brauchen?